Eigentlich war Bills altes Zimmer deutlich zu klein für zwei erwachsene Männer. Skeptisch betrachtete Charlie das Feldbett, auf dem er die nächsten paar Nächte verbringen sollte. Hätte er das gewusst, so hätte er ein eigenes aus Rumänien mitbringen können, von dem er immerhin wusste, dass er darauf gut schlief, oder vielleicht sein Zelt, um damit im Garten zu übernachten. Mit den beiden Betten war das Zimmer nämlich komplett ausgefüllt, kein einziges Fleckchen Fußboden blieb frei. Charlie würde sich mit dem Kopf zur Tür legen müssen, wenn er vermeiden wollte, sich beim Aufstehen den Kopf am Schreibtisch zu stoßen.
Es war seltsam, wieder im Fuchsbau zu sein. Charlie strich sich über seinen beinahe kahl geschnittenen Kopf und verzog das Gesicht. Was seine Mutter nur immer meinte – er hielt seine vorige Frisur für gar nicht so wild.
“Lass sie doch über Nacht wieder wachsen”, schlug Bill vor.
“Um Mum morgen einen Herzinfarkt zu verpassen? Na, wenn du das möchtest.” Charlie schüttelte den Kopf und sah Bill zu, wie er über das Feldbett hinweg in sein eigenes kletterte.
“Na, das wäre eine unvergessliche Hochzeit.” Bill lachte auf. “Nur ein bisschen, meine ich. Muss ja nicht gleich ein meterlanger Zopf sein.”
Charlie schüttelte schmunzelnd den Kopf. “Unfair, dass du deine behalten durftest.” Er kletterte in sein Feldbett. Nach einem kurzen Blick zu Bill, ob der noch etwas brauchte, deutete Charlie mit seinem Zauberstab auf die Lampe, um sie auszuschalten.
“Vorrecht des Bräutigams”, sagte Bill in die Dunkelheit hinein. Charlie konnte das Grinsen aus seiner Stimme heraushören. “Du müsstest heiraten, dann dürftest du langes Haar haben.”
Es war ein Witz. Bill hatte eindeutig einen Witz gemacht und meinte es nicht ernst, und dennoch war es, als sei Charlies Magen nun ein einziger schwerer Stein.
Denn für Bill mochte es ein Witz sein, doch für ihre Mutter und viele andere Verwandte war es das nicht. Charlie konnte es sich schon gut vorstellen: “Wann heiratest du? Bist du denn ganz alleine hier? Wann stellst du uns denn endlich einmal jemanden vor?” Insbesondere Muriel würde sich sicherlich über ihn auslassen, wenn sie nicht gerade über Fleur lästerte.
Er schluckte. “Tja”, brachte er hervor, “dann muss ich wohl auf ewig mit dieser Bürste auf dem Kopf herumlaufen.” Die Worte klangen laut im dunklen Zimmer, lauter war jedoch das Rauschen in Charlies Ohren.
“Ach, du findest schon noch die Hexe deiner Träume, mit der du Besen fliegen und Drachen reiten kannst. Oder die Muggelfrau deiner Träume, mit der du … ich weiß nicht, Motorrad fahren kannst? Würde dich nicht dafür verurteilen, so eine Maschine, wie Hagrid geflogen ist, passt sicher auch gut zu dir.” Bills Tonfall war leicht und unbesorgt, eine Plauderei.
Unbehagen machte sich in Charlie breit. Normalerweise dachte er gar nicht darüber nach, zu heiraten. Für die Arbeit im Reservat hatte es keine Relevanz, und überhaupt:
“Ich hab doch gar nicht die Zeit, neben der Arbeit noch eine Beziehung zu führen. Viel zu anstrengend.” Reservatsarbeit wie Ordensarbeit, beides nahm seine Zeit in Anspruch. Wenn er sich vorstellte, dann zuhause nicht seine Ruhe zu haben – nein danke.
“So funktionieren Beziehungen nicht.” Charlie konnte das Lachen aus Bills Stimme heraushören. “Wenn du die Richtige findest, ist es nicht anstrengend, Zeit zu verbringen. Dann machst du das freiwillig.”
Charlie bezweifelte das. Nicht allgemein natürlich, er hatte schließlich Augen im Kopf und sah, wie seltsam sich alle um ihn herum verhielten, kaum dass Hormone ins Spiel kamen. Aber für ihn selbst war es eine Horrorvorstellung, ohne, dass er konkret in Worte packen konnte, was ihn daran so abstieß. Andere gefiel es schließlich, und es gab nichts Konkretes, das er benennen konnte, was ihn nicht gleichzeitig wie ein trotziges Kind wirken ließ. Er wollte sein Schlafzimmer nicht teilen, geschweige denn sein Bett. Er wollte nicht, dass eine andere Person ein Anrecht auf seine Gesellschaft haben sollte, oder seine Gedanken, oder sein Leben.
“Ich glaub nicht, dass es ‘die Richtige’ für mich gibt.”
“Jeder Topf findet seinen Deckel, Charlie. Glaub mir. Ich hab auch nicht mehr dran geglaubt, und dann bin ich Fleur begegnet.”
“Ich glaub nicht, dass ich auf diese Weise an Frauen interessiert bin. Deswegen. Ich glaub nicht, dass es ‘die Richtige’ für mich gibt.” Da, er hatte es gesagt.
Für lange Zeit war Bill still. Dann: “Oh. Mh.“ Er räusperte sich. „Na, auch der Richtige wird für dich kommen.“
Charlie schüttelte frustriert den Kopf, auch wenn Bill das in der Dunkelheit natürlich nicht sehen konnte. „Ich bin nicht schwul“, sagte er. „Auch an Männern habe ich auf diese Weise kein Interesse. Nie gehabt.“ Und Himmel, er hatte damit gehadert. Nicht von selbst, er wäre nie darauf gekommen, dass es ein Problem sein könnte, keine Beziehungen zu wollen, keinen Sex zu wollen. Doch gerade in Hogwarts hatte er so einige spitze Bemerkungen zu hören bekommen, dass er doch wohl „eine Schwuchtel“ sein musste, wenn er nicht, wie alle anderen, Interesse an Mädchen zeigte. Dabei hatte es ihn einfach nur nie interessiert. Wenigstens waren im Reservat solche Dinge egal, dort musste er sich keine dummen Bemerkungen mehr anhören.
„Sondern?“ Bill klang verwirrt. „An Drachen etwa?“ Jetzt war da eindeutig wieder ein Grinsen in der Stimme.
„Wäh, nein, igitt!“ Charlie lachte auf, wurde dann aber schnell wieder ernst. „An niemandem. An einfach gar niemandem. Weder zu Schulzeiten noch später, weder an Frauen noch an Männern oder Kobolden oder Zentauren oder Drachen oder welches seltsame Zeug du dir noch ausdenken kannst. Das ist einfach alles völlig uninteressant für mich.“
Wieder schwieg Bill. „Das verstehe ich nicht“, sagte er schließlich. „Liebe. Sex. Bedeutet das überhaupt nichts für dich?“
„Was ist Liebe überhaupt? Ich glaube nämlich sehr wohl, dass ich euch alle liebe. Dich, Mum, Dad, die Kleinen … sogar Percy, auch wenn er im Moment … aber lassen wir das Thema. Ich liebe euch alle. Aber nicht so.“
„Ach, Charlie.“
Der Tonfall gefiel Charlie nicht. Es klang, als hielte Bill ihn für ein kleines Kind, dem man die Welt erklären musste. Als würde er eines Tages aufwachsen und es verstehen, und bis dahin war er kein richtiger Erwachsener.
„Ich weiß, dass du etwas anderes meinst“, sagte er darum. „Ich sehe das doch an dir und Fleur, an Mum und Dad, und so weiter. Ich sehe nur nicht ein, warum ich das auch empfinden muss, um für voll genommen zu werden und über meine eigene Frisur bestimmen zu dürfen.“ Abrupt schloss er den Mund, als er merkte, dass er sich in Rage geredet hatte. Er hatte nicht vorgehabt, mit Bill am Vorabend der Hochzeit zu streiten.
„In Ordnung“, sagte Bill. „Aber vermisst du gar nichts? Zweisame Abende in Gemütlichkeit und Geborgenheit. Das Gefühl, von einem anderen Menschen so richtig verstanden zu werden. Nummer eins im Leben zu sein.“
Charlie dachte darüber nach. Vermisste er etwas? Manchmal wäre er gerne näher an seiner Familie, Rumänien war so schrecklich weit weg. Gerade in den letzten Jahren, wo eine Schreckensbotschaft der anderen gefolgt war, hatte er mehrfach darüber nachgedacht, doch zurückzukehren und in Wales zu arbeiten oder oben bei den MacFustys. Er hätte es getan, würde nicht Dumbledores Auftrag ihn an Rumänien binden. Neue Kämpfer und Mitglieder anzuwerben war schließlich wichtig, und auch Dumbledores Tod beendete den Auftrag noch lange nicht. Doch seine Hütte im Reservat mit jemandem zu teilen war nichts, wonach es ihn sehnte.
„Nein“, antwortete er darum. „Rein gar nichts. Und Sex auch nicht, bevor du nochmal fragst.“ Er hielt einen Moment inne, bevor er den Mut fasste, weiterzusprechen. „Ich finde die Vorstellung ziemlich eklig.“
“Oh. Ernsthaft? Dabei kann das so schön-”
“Zu viel Information, Bill, zu viel Information.”
Bill lachte. “Alles klar, Bruderherz. Du liebst uns alle, aber für Enkelkinder müssen andere sorgen.“
„Ganz genau.“ Es war ja wirklich nicht so, dass er niemandem nahe stand, oder dass er keine Liebe empfand. Nur war ihm der Wunsch nach einer Liebesbeziehung fremd, und das seit er denken konnte. „Das ist auch nichts von wegen ‚Wenn ich noch zwei Jahre warte, verliebe ich mich‘ oder ‚Wenn ich erwachsen werde, entwickelt sich der Wunsch.‘ Ich werde dieses Jahr fünfundzwanzig, ich denke, ich weiß, was ich will. Ich mein, Lebensentwürfe und Wünsche können sich immer ändern. So ein Leben ist lang. Aber ich rechne einfach nicht damit, dass es passieren wird.“
„Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, wie das ist.“
Charlie schwieg. Er konnte sich auch nicht vorstellen, wie es war, sich eine Bindung zu einem Menschen zu wünschen, wie Bill sie mit Fleur hatte und morgen vor der ganzen Familie, allen weiteren Verwandten und Freunden der Familie festigen würde. Eine Bindung, als deren Zeuge Charlie selbst auftrat.
„Was bedeutet es denn für dich?“, fragte er also. „Zu heiraten, meine ich.“
„Im Grunde macht es nur ein Versprechen offiziell, das wir uns vor langer Zeit bereits gegeben haben: Dass wir gemeinsam durch dick und dünn gehen und uns treu zur Seite stehen, so kitschig das nun klingt.“
„Und wann hast du gemerkt, dass es das ist, was du willst? Wusstest du schon immer, dass du so etwas einmal haben willst?“ Mit einem Mal bedauerte Charlie es, dass er mit Bill früher nie über solche Dinge gesprochen hatte. Sie hatten viele Dinge zusammen unternommen und Bill war derjenige seiner Geschwister, mit dem in seiner Jugend die meiste Zeit verbracht hatte. Wünsche und Empfindungen waren jedoch nie Thema gewesen.
„Mh“, machte Bill und Charlie konnte ihn förmlich nachdenken hören. „Ich hatte schon immer irgendwie die Vorstellung, dass eine eigene Familie mit Kindern etwas ist, das ich mir wünschen könnte. Wie genau ich mir so eine Partnerschaft vorstelle, hat sich jedoch im Laufe der Jahre deutlich gewandelt.“ Bill lachte kurz auf. „Vor ein paar Jahren ging ich noch davon aus, in … sagen wir Mexiko, oder vielleicht Ägypten oder Jordanien eine andere Fluchbrecherin kennenzulernen, mit ihr durch die Welt zu reisen, und frühestens sesshaft zu werden, wenn die Kinder ins Schulalter kommen. Mittlerweile haben sich die Prioritäten da etwas verschoben.“
Charlie versuchte es sich vorzustellen. Bill und eine hypothetische andere Frau, wie sie als dynamisches Action-Duo durch die Welt reisten. Es passte mehr zu Bill, wie er ihn als Jugendlichen wahrgenommen hatte. Jetzt … „Wir entwickeln uns alle weiter, was?“ Er schmunzelte, dann kratzte er sich über den frisch getrimmten Kopf. „Deine Grundvorstellung hat sich nicht geändert, aber die Details sind anders, richtig?“
„Ist das bei dir denn anders?“
Charlie dachte an sein Leben in Rumänien, an das Drachenreservat. An das Praktikum, in dem er sich in den Winterferien der siebten Klasse den Arm so verbrannt hatte, dass er seinen Posten als Sucher und Kapitän des Gryffindor-Teams hatte aufgeben müssen. Er dachte an seine Arbeit in Rumänien, an die Entfernung von seiner Familie, die in den ersten Jahren eine willkommene Veränderung und nun eher etwas, das es auszuhalten galt, geworden war. An seinem Dasein als Drachenwärter wollte er jedoch nichts ändern. „Nein, du hast schon recht.“
„Was willst du im Leben, Charlie? Die Grundlagen, meine ich, nicht die Details.“
Was wollte er? Drachen und Familie. Familie und Drachen. Auch wenn Familie für ihn etwas anderes bedeutete als für beispielsweise Bill, oder für ihre Eltern. Er wollte keine sogenannte eigene Familie, denn er hatte bereits eine große, wundervolle Familie, mit der er gerne mehr Zeit verbringen würde, für die er gerne da wäre. Geschwister, die er aufwachsen sehen wollte, auch wenn er weiterhin mit Drachen arbeitete und viele lange Monate im Jahr in den Karpaten war. Andererseits waren die Kleinen auch in der Schule, oder auch schon aus der Schule heraus und höchst erfolgreiche Geschäftsleute, wenn man einmal die Zwillinge ansah. Charlie wollte Kontakt zu ihnen haben, und wollte ihr Leben begleiten, auch wenn es sich weiter entwickelte. Er wollte sie alt werden und ihre Kinder aufwachsen sehen.
„Onkel werden“, sagte er schließlich. „Das trifft es wohl am besten.“
Bill schnaufte, ob vor Lachen oder wegen etwas anderes, konnte Charlie in der Dunkelheit des Zimmers nicht feststellen.
„Was ist?“, fragte Charlie.
„Ach, Charlie“, sagte Bill. „Das kriegen wir hin.“
„Wundervoll. Na, dann gebe ich euch doch gerne morgen meinen Segen.“ Er grinste. „Bisschen spät, so am Tag vor der Hochzeit als Trauzeuge mal darüber zu reden, aber hey, besser spät als nie.“ Er war eben auch erst seit heute wieder in Großbritannien und den ganzen Tag über hatte es sich wirklich nicht angeboten.
„Nur weil du dann Onkel wirst, mh? Ganz uneigennützig.“
„No pressure, mein lieber Bruder.“ Er hatte wirklich den besten aller Brüder. Die besten Brüder, Charlie schätzte die anderen ja nicht weniger. Die besten Geschwister, schließlich sollte Ginny da nicht ausgeschlossen werden. „Passt wirklich zu dir“, sagte er dann. „Zu heiraten. Speziell Fleur zu heiraten. Eine Familie zu gründen. Vater zu werden.“
„Wir werden uns glücklich schätzen können“, sagte Bill, „denn du wirst der beste Onkel sein, den es auf der Welt geben kann.“
Charlie lächelte in die Dunkelheit hinein. „Ich habe wirklich die beste aller Familien.“ Und damit war alles gesagt.